Die leblose Gesellschaft | Warum wir nicht mehr fühlen können by Hagen Jeannette

Die leblose Gesellschaft | Warum wir nicht mehr fühlen können by Hagen Jeannette

Autor:Hagen, Jeannette [Hagen, Jeannette]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Flüchtlinge, Fremdenfeindlichkeit, Gesellschaft, Mitgefühl, Psychologie
ISBN: 9783958901070
Herausgeber: Europa Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE

Sprache und Gefühle sind eng miteinander verknüpft. Mithilfe der Sprache drücken wir unsere Gefühle aus. Andersherum sorgen Gefühle manchmal auch dafür, dass wir sprachlos sind oder förmlich »übersprudeln«. Und gerade weil Sprache und Gefühle so dicht miteinander verwoben sind, ist es ein Leichtes, uns darüber zu manipulieren. Wir geben dem, was gesagt wird, meist mehr Gewicht als dem, was wir intuitiv fühlen. Obwohl wir, weit bevor das erste Wort gesagt ist, über die Spiegelneuronen in unserem Gehirn die Gefühlslage des Gegenübers instinktiv erfassen, geben wir oftmals den Worten mehr Gewicht als unserer Intuition. Worte sind wirksam. Sie beeinflussen unsere Gefühle und unsere Wahrnehmung. Somit formen sie unsere Realität. Allein die permanente Wiederholung eines Wortes oder einer Wortkombination sorgt dafür, dass sich das, was wir hören oder lesen, wahr anfühlt.

Der deutsche Romanist und Politiker Victor Klemperer bemerkte in diesem Zusammenhang, dass Wörter dieselbe Wirkung wie winzige Dosen Arsen haben können: »Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«31

Beobachtet man in diesem Kontext die Rhetorik der AfD, mancher Journalisten oder einiger Politiker, dann fällt auf, dass sie sich diese Gesetzmäßigkeit zunutze machen. Mit stetiger Regelmäßigkeit wird provoziert, werden gezielt rhetorische Spitzen gesetzt, an denen sich die Medien im Gleichklang empören und sich das Volk in den sozialen Netzwerken abarbeiten kann.

Viele Vergleiche mit dem Nationalsozialismus hinken, aber was den gezielten Einsatz von Sprache betrifft, lässt sich die Ähnlichkeit nicht leugnen. Die Nationalsozialisten haben ihre Kommunikation nicht dem Zufall überlassen, sondern die Kraft von Wörtern als Instrument der Massenbeherrschung genutzt. Menschenverachtung war ein Kernthema dieser grausamen Ideologie, und es ist erschütternd, wie sich Geschichte wiederholt. Hermann Göring sagte noch am 18. April 1946: »Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.«32

Heute werden auf dieselbe Art Menschen mobilisiert. Nicht nur bei uns in Deutschland. Überall funktioniert Propaganda nach diesem Muster. So lässt die AfD (wie natürlich andere Parteien auch) hochprofessionelle Werbeagenturen für sich arbeiten, um mit wenigen Worten, meist nur Behauptungen, etwas in die Welt zu setzen, was nachhaltig auf unsere Gefühlslage wirkt. Das Ziel ist, zu verängstigen. Darum wird vor der »Invasion«, der »Überschwemmung«, der »Massenzuwanderung«, der »Überfremdung« oder davor, dass »das Boot voll ist« gewarnt. All das sind Begriffe, die wir mit Bedrohung assoziieren. Auch das Wort »Eliten« spielt eine Rolle, wenn es darum geht, sich die Politikverdrossenheit und den Neid breiter Bevölkerungsschichten zunutze zu machen. »Die da oben« haben es verbockt. Die, »die sich für etwas Besseres halten«, sind Verbrecher.

Aber es ist nicht nur die AfD, die Ängste schürt. Polemik ist gesellschaftsfähig geworden. Selbst die Leitmedien schrecken nicht davor zurück, Bedrohungs- oder Kriegsszenarien aufzubauen. Da wird von der »Flüchtlingsfront« berichtet – und selbst das kleine Wörtchen »noch« suggeriert uns, dass der Kollaps eigentlich unausweichlich ist.



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